Wenn man innerlich nicht hinterher kommt
Manchmal erlebt man innerhalb von ein paar Wochen verschiedene Dinge, für die man einzeln eigentlich mehrere Monate zum durch- und verarbeiten gebraucht hätte.
So geht es mir gerade und ich stecke mitten drin im Chaos der inneren Realisierung und Verarbeitung.
Es sind viele Sachen, die mich beschäftigen, einiges davon sollte keinen Platz im Internet finden, das bleibt zwischen den Seiten meines kleinen Ledertagebuchs. Über Anderes möchte ich auch hier schreiben.
Von Anfang an
Alles fing mit meinem Opa an: Er wurde am 15. März 1928 in Russland an der Wolga geboren. Als Deutscher wuchs er in Russland auf und kam als Russe nach Deutschland. Es schien als würde er nirgendwo so richtig hingehören.
In Russland heiratete er meine Oma, die vor 4 Jahren verstorben ist.
Lebenswandel
Im Jahre 1950 besuchte ein Wanderprediger das Dorf, in dem sie lebten. Der Prediger wurde auf meinen Opa aufmerksam, da er keinen Alkohol trank und als vertrauenswürdig galt. Der Prediger lud sich selber zu meinen Großeltern ins Wohnzimmer ein. Mein Opa trank zwar kein Alkohol, aber auch noch nicht vom lebendigen Wasser, wie Jesus sich selbst bezeichnete. Doch durch diesen Wanderprediger in Russland lernten meine Großeltern Jesus als Gottes Sohn kennen. So wurden meine Großeltern zu Christen noch lange bevor es mich gab. Dies brachte mir den Segen in einer gläubigen Familie aufzuwachsen.
Die Kosten und der Nutzen der Nachfolge
In Russland wurden die Christen zu dieser Zeit verfolgt und verscheucht. Meine Großeltern wurden des öfteren Enteignet und nach Sibirien in Arbeitslager geschickt oder verließen in einer Nacht und Nebelaktion alles, was sie besaßen. Nach vielen schweren Zeiten in Russland kamen sie mit ihren 8 Kindern nach Deutschland, meine Mutter war die Jüngste. Sie bauten sich ein Leben in Deutschland auf, doch blieben immer ein bisschen fremd. Mit ihrer großen Familie und ihrer noch größeren geistigen Familie waren sie jedoch gut aufgehoben und versorgt.
Sie waren immer da
Viele Stunden und Tage meiner Kindheit verbrachte ich bei und mit meinen Großeltern. Heute weiß ich, dass das nicht selbstverständlich ist und bin sehr dankbar für das Interesse, das meine Großeltern am Leben ihrer Enkel hatten.
Erst jetzt, wo beide nicht mehr hier sind, nehme ich wahr, wie sehr sie mich und mein Leben inspiriert haben. Ja auch, wie viel Spaß wir miteinander hatten.
Die Zeit mit meinem Opa
Über den tiefen Glauben meiner Oma habe ich zu ihrem Tod berichtet. Danach hatte ich noch 4 Jahre mit meinem Opa. In diesen vier Jahren ist viel passiert.
Kurz bevor ich für 6 Monate auf die Philippinen gegangen bin, hatte er einen Herzinfarkt und innere Blutungen. Als ich mich von ihm verabschiedete, wusste ich, dass es das letzte Mal sein könnte. Das war der Abschied, der mir das Herz am schwersten gemacht hat.
Mein Opa war ein sehr besonderer Mensch für mich. Wie wohl in jeder Verwandtschaft, gab es auch in meiner so einige Probleme. Mein Opa war einer, der immer ein weites Herz und ein breites Grinsen für mich bereithielten. Ich habe gespürt, dass er mich von Herzen lieb hatte.
Es kann weiter gehen
Nach den Philippinen warteten dieses weite Herz und das Gebiss hinter dem schönen Grinsen immer noch auf mich. Sogar meine Hochzeit letzten Sommer durfte er miterleben. Dass er dort dabei war, bedeutet mir so viel.
Zeit miteinander verbringen
Fast jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern war, lud ich auch meinen Opa ein. Er erzähle mir davon, wie er seine Lebensgeschichte aufschrieb und die Dinge seines Lebens nochmal durchlebte und dabei weinen musste. So gut konnte ich als leidenschaftliche Schreiberin das mitempfinden. Zu der Zeit schrieb ich gerade meine Bachelorarbeit über therapeutisches Schreiben und freute mich umso mehr, dass mein Opa sein Leben durchs Schreiben verarbeitete.
Er schrieb auch seine Gedichtesammlung auf. Beides hielt ich irgendwann in den Händen. Trotz des schlechten Deutschs (wenn man das überhaupt Deutsch nennen kann) bedeuten diese Schriften mir sehr viel. Sie sind gezeichnet von den Erfahrungen, Prägungen und der Glaubensreise meines Opas. Hinter diesem Hintergrund sollte man sie lesen um sie verstehen zu können. Ich habe das Gefühl, ich verstehe ihn gut.
Man merkt, dass ich seine Enkelin bin:
Jetzt wo ich so über ihn nachdenke wird mir bewusst, wie viel wir gemein haben:
Er liebte es zu schreiben – ich schreibe.
Er war Fotograf mit eigenem Studio – ich fotografiere.
Er sang und schrieb Lieder mit ganzem Herzen – ich singe und schreibe Lieder (versuche mich daran).
Er lernte Gedichte und Bibelkapitel auswendig – ich kenne immer noch das Gedicht aus der 5. Klasse und lerne wöchentlich Bibelverse auswendig.
Er war albern, wenn meine Oma es am Essenstisch ruhig haben wollte – ich bin albern, so oft ich nur kann.
Er hatte seine ganze Hoffnung auf Jesus gesetzt – ich klammer an diesem Jesus mit ganzem Herzen.
Dankbarkeit
Für all diese Punkte bin ich dankbar, ganz besonders für den Letzten. Ich bin dankbar, dass mein Opa diesem Wanderprediger zuhörte und so Jesus in eine Familie vieler Generationen brachte.
Er zeigt mir, was im Leben zählt
Ich wünsche mir, dass auch ich die Welt zum Positiven beeinflussen kann. Nicht vorrangig die gesamte Welt, sondern die Welt einzelner Menschen. Ich möchte ein Segen sein, so wie er durch seine wertschätzende Art ein Segen war; ich möchte Jesus in das Leben von anderen Menschen bringen, so wie seine Entscheidung Jesus in mein Leben gebracht hat; ich wünsche mir so wie er eines Tages auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können, nicht erfüllt von Reichtum und Besitz, das hatte er nie anhäufen können (wie auch, mit acht Kindern und gefühlt 1000 Enkelkindern?!), sondern reich an Glaube, Hoffnung und Liebe. Er konnte am Ende seines Lebens sagen, dass er bald heim gehen würde. Was für eine Aussicht! Was für ein Ziel seiner Glaubensreise. Er wusste, er würde endlich ankommen.
Ich würde ihn gerne fragen, ob er sich auf dieser Welt jemals irgendwo so richtig Zuhause gefühlt hat. Und ich habe das Gefühl, ich weiß, was er sagen würde: „Meine Heimat ist im Herrn, dorthin bin ich unterwegs.“ Und nun, geliebter Opa, bist du angekommen.
Die Trauer weicht der Freude seines Heils
Ich bin traurig wegen dieser Momente, die ich noch so gerne mit dir gehabt hätte. Ich bin traurig, dass ich dir nicht auf Wiedersehen sagen konnte. Ich bin traurig, dass ich nicht wusste, dass der letzte Abschied der letzte Abschied war.
Glücklich über das Leben
Doch ich bin glücklich, dass du mir so wichtig warst, dass ich so oft nach dir gefragt und dich gesehen habe. Ich bin glücklich, dass es auch andersrum so war. Ich bin glücklich, für die Kindheit, in der du so viel Raum eingenommen hast. Ich bin glücklich, für das Vorbild des Glaubens, das ich in dir habe. Ich bin glücklich, dich meinem Opa nenne zu dürfen.
Ich bin glücklich über die Tränen, die meine Wangen runter laufen, wenn ich dein Bild in den Händen halte, denn das zeigt mir, wie nahe wir uns sind.
Ich bin glücklich, denn ich weiß, dass es dir jetzt besser geht als jemals auf dieser Welt. Ich bin glücklich mit der Hoffnung, irgendwann auch dort zu sein.
Ich bin glücklich über diesen neuen Tag, denn keiner weiß, wie viele davon noch folgen werden.
Ich hab dir etwas geschrieben, Opa
Am Tag, als die Nachricht des Todes meines Opas kam, stand ich allein in unserer kleinen Wohnung voller Umzugskartons. Es war viel zu organisieren und anzupacken und ich war für den Rest der Woche alleine. Ich sank zwischen den Umzugskartons zu Boden und ließ den Tränen freien Lauf. Mein Opa war seit zwei Wochen im Koma im Krankenhaus und mir war klar, dass er sterben würde. Trotzdem brachte mich diese Nachricht zu Boden.
Ich hatte viel zu tun und wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Trotzdem lies ich alles steht und liegen und ging zum Fluss. Einem Ort, an dem mein Opa besonders gerne war.
Was uns der Tod lehrt:
Der Tod zeigt mir aufs Neue, wie wertvoll dieses Leben und dieser Moment ist. Lass uns die Menschen im Blick haben, denen wir begegnen. Ich wäre viel trauriger, wenn ich nicht so viel Zeit mit meinem Opa verbringen hätte dürfen.
Lass uns nicht bereuen, Dinge versäumt zu haben, wenn es zu spät ist.
Ruf doch mal wieder deine Mama an, besuch Verwandte und gute Freunde. Konzentrier dich auf weniger Menschen, dafür mit ganzem Herzen.
Vergib; lass los; sei dankbar und freundlich; liebe und lache; und lass dich lieben; sei geduldiger und gelassener; lass uns aufhören uns den Kopf zu zerbrechen, sondern lass uns einfach leben; geh raus und pflücke Blumen; lebe das Leben, das Gott dir geschenkt hat.
Und wenn du damit anfängst, schau hier vorbei: Für einen ganzheitlich gesünderen Alltag.
Erzähl mir, was beschäftigt dich gerade.
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Liebe Julia,
ich habe in der Nacht vom 27.10. auf den 28.10. meinen geliebten Opa verloren. Ich kann es immer noch nicht realisieren. Hin und wieder überfällt mich die Traurigkeit und ich weine viel, aber im nächsten Moment kann ich es einfach nicht glauben und fühle mich leer. Wir planen momentan die Beerdigung, was in Zeiten von Corona leider nicht das Einfachste ist.
Deinen Blogeintrag zu lesen hat mich sehr berührt. Mein Opa war all‘ das auch für mich. Mein bester Freund und teilweise auch mehr Vater, als mein eigener Vater es jemals war. Ich habe ihn unendlich lieb und konnte zum Glück in den letzten Jahren auch viel Zeit mit ihm verbringen. Ich habe viele Bilder und Videos aufgenommen, die ich mir jetzt gerne anschaue. Er war ein herzensguter, freundlicher (manchmal auch gemeiner, wenn er einen absichtlich aus Spaß geärgert hat) und vor allem lustiger Mensch. Ich werde ihn immer in meinem Herzen tragen und hoffe, dass ich ihn durch den Alltag über die Jahre nie vergessen werde. Davor habe ich am meisten Angst. Ich lese, dass du ein sehr religiöser Mensch bist. Das finde ich sehr schön. Mein Opa hat in seinem Leben nicht wirklich viel gebetet, aber wir haben mit ihm gemeinsam eine Woche vor seinem Tod ein Gebet gesprochen. Da hatten wir schon eine Vorahnung, dass es nicht mehr lange gehen würde. Ich habe eine Bitte an dich, könntest du vielleicht ein Gebet für meinen Opa sprechen?
Ich danke dir von Herzen und wünsche dir nur das Beste.
Viele Grüße
Chantal
Hallo liebe Chantan,
so wie du über deinen Opa schreibst, scheint er wirklich ein sehr besonderer und naher Mensch für die gewesen zu sein. Schön, dass du so einen wunderbaren Opa haben durftest! Es ist sicher schwierig, den Tod eines so geliebten Menschen zu verarbeiten. Lass dir Zeit und erlaube dir zu trauern und zu weinen. Ich finde immer, wenn ein Mensch diese Erde verlässt, darf man das ordentlich betrauern. Das trauern hilft uns auch dabei die Erinnerungen zu bewahren.
Gerne bete ich für deinen Opa, aber besonders für dich. Du hast den Großteil des Lebens noch vor dir. Wäre ja schön, wenn Gott dabei eine Rolle spielen darf – nicht erst im Sterben. 🙂
Du darfst dir der Liebe Gottes und seinem Trost bewusst sein.
Von Herzen wünsche ich dir Gottes Segen,
deine Julia